Wer an Schule und Unterrichtsfächer denkt, denkt in der Regel an Deutsch, Mathe, Englisch und die anderen Fächer, die sich auf einem Stundenplan finden lassen. Fächer, wie Kommunikation, Erkennen und Einordnen von Gefühlen, sich in andere hineinversetzen lernen, Selbstvertrauen stärken, Ängste im sozialen Kontext abbauen, mit Wut umgehen lernen oder Verständnis für soziale Regeln findet man meist nicht explizit am Stundenplan. Diese Fähigkeiten werden meist entweder vorausgesetzt oder es wird erwartet, dass diese im Alltag in der Schule und zu Hause, so nebenbei, mitgelernt werden.
Dies kann für viele autistische Kinder gelten. Meiner Erfahrung aus dem Schulalltag nach, kann man dies aber nicht automatisch voraussetzen. Es kann Schule für viele Kinder im Spektrum daher um ein Vielfaches anstrengender machen, weil die genannten Fähigkeiten oft nicht nebenbei automatisch mitgelernt werden, sondern dezidiert geübt werden müssen. Dies ist keine Frage mangelnder Intelligenz oder fehlendem Interesse, sondern hat seine Gründe in der autistischen Wahrnehmung der Welt und den Besonderheiten in der Kommunikation und sozialen Interaktion.
Ich bekomme immer wieder die Rückmeldung von Eltern und Lehrer:innen, dass es in der Schule gut klappt, am Nachmittag zu Hause, dann aber eskaliert. Es sind noch Hausaufgaben zu erledigen, es ist für die Prüfung zu lernen oder ein Referat vorzubereiten, der Akku ist aber schon leer.
Schule bedeutet für viele autistische Kinder Abliefern von Höchstleistungen. So kann es beispielsweise bedeuten, dass Unterrichtsfächer nicht nur den eigentlichen Lerninhalt haben, sondern zusätzlich noch einen Mehraufwand von Energie bedeuten.
Werken bedeutet nicht nur das Herstellen eines Werkstücks, sondern:
- Entscheidungen treffen
- Handlungsabläufe planen
- Einstellen auf Neues
- Impulse kontrollieren
- Aufmerksamkeit lenken
Deutschunterricht bedeutet nicht nur z.B. das Schreiben einer Bildgeschichte, sondern:
- Aushalten von Lärm in der Klasse
- sich in die Akteure der Geschichte hineinversetzen
- Perspektivübernahme
- Handlungsverläufe einer anderen, fiktiven Person planen
- genau auf der Linie schreiben
Turnen bedeutet nicht nur Fußballspielen, sondern:
- Aushalten von Lärm
- Aushalten von unangenehmen Gerüchen
- Handlungsabläufe planen
- das eigenen Verhalten spontan auf die Reaktionen der Mitspieler:innen anpassen
- Wissen, was die anderen planen und vorhaben
Die Pause ist nicht nur Zeit für Entspannung, sondern:
- Aushalten von Lärm
- Einstellen auf eine räumliche Veränderung
- das finden einer sinnvollen, gemeinsamen Freizeitgestaltung
- Kontaktaufnahme mit anderen Kindern
- permanente soziale Reize aushalten und verstehen
All diese Punkte stehen beispielhaft für die mögliche Zusatzarbeit, die Kinder im Spektrum in der Schule zu leisten haben. Nicht jeder Punkt trifft auf jedes Kind zu, verdeutlicht aber, wie anstrengend es sein kann. Sogar vermeintlich angenehme Teile der Schule, auf die sich die meisten Kinder im Allgemeinen freuen, wie die Pause, kann ein stressiges Ereignis im Schulalltag sein.
Was bedeutet dies also für die Zeit in der Schule? Meiner Meinung nach sind drei Punkte besonders wichtig und sollten aus autismuspädagogischer Sicht als erstes umgesetzt werden, um ein positives und unterstützendes Umfeld zu schaffen.
- Reizreduziertes Umfeld schaffen:
- minimiere sensorische Reize, vor allem akustische und optische Reize, die ablenkend oder störend sein können.
- ermögliche gegebenenfalls eine Rückzugsmöglichkeit für dein:e Schüler:in – dies kann ein ruhiger Nebenraum sein, in den er/sie sich zurückziehen kann oder das Bereitstellen eines Gehörschutzes
- Ermögliche und fördere Soziales Lernen:
- soziale Interaktion und Kommunikation können für Kinder im Spektrum schwierig sein. Baue Lerneinheiten in den Unterricht ein oder ermögliche – wenn bei dir im Schulsystem vorhanden – spezialisierten Pädagogen, dies anzubieten.
- erkläre, warum ein bestimmtes Verhalten richtig oder falsch ist. Nutze hierbei Comic Strips oder Social Stories. Beides bewährte Methoden.
- Information und Kommunikation:
- Je mehr Wissen über Autismus vorhanden sind, desto besser. Bilde dich weiter, hol Profis ins Team oder tausch dich mit erfahrenen Kolleg:innen aus. Gemeinsam ist es leichter. Im Team ist es leichter.
- Arbeite mit den Eltern zusammen. Regelmäßiger Austausch auf Augenhöhe ist unbezahlbar. Eltern und Lehrer:innen wollen für ihre Kinder/Schüler immer das Beste. Wenn eine gute Zusammenarbeit gelingt, profitieren alle davon.
Mit etwas Hilfe und Geduld kann man es schaffen ein autismusfreundliches Klassenzimmer zu schaffen in dem mit stressfrei gelernt werden kann und das all die versteckten Lerninhalte berücksichtigt. Wie heißt es so schön in dem – wunderbaren und sehr empfehlenswerten – Kurzfilm “Erstaunliche Dinge geschehen”: “Menschen mit Autismus sind nicht etwa krank oder kaputt – sie haben lediglich eine einzigartige Sicht auf die Welt. Mit etwas Geduld und Hilfe ihrer Freunde können sie vielleicht diese Sicht mit uns teilen.”